Das Leben ist Poker, nicht Schach
Wie wir mit Annie Duke lernen, in Wetten zu denken.
Strategisches Denken bedeutet, Entscheidungen zu treffen, die weit über den Moment hinausreichen. Ob in der Politik, in Organisationen oder im persönlichen Umfeld: Wir müssen Optionen abwägen, Risiken einschätzen und uns für einen Kurs entscheiden, obwohl wir nie alle Informationen haben. Genau hier setzt Annie Dukes Buch Thinking in Bets an. Es zeigt, wie wir unter Unsicherheit bessere Entscheidungen treffen und unsere Strategie so resilienter und klüger gestalten können.
Wer ist Annie Duke?
Annie Duke studierte Psychologie an der University of Pennsylvania und begann ein Doktoratsstudium in Linguistik in Harvard, das sie wegen Krankheit abbrach. Stattdessen wandte sie sich dem Poker zu und wurde eine der erfolgreichsten Spielerinnen der Welt: Sie gewann die World Series of Poker und mehrere Millionen Dollar Preisgeld. Ihre Erfahrungen am Pokertisch übertrug sie später auf die Entscheidungsforschung.
Worum geht es in Thinking in Bets?
In Thinking in Bets zeigt Annie Duke, wie wir unsere Entscheidungsfindung verbessern können, indem wir sie als Wetten verstehen. Entscheidungen sind keine eindeutigen Ja- oder Nein-Fragen, sondern Einsätze auf eine unsichere Zukunft. Duke erklärt, warum das Leben wie Poker und nicht wie Schach ist, und warum wir lernen müssen, Ergebnisqualität von Entscheidungsqualität zu trennen.
Sie beschreibt praxisnah die psychologischen Fallen, die uns systematisch täuschen und gibt konkrete Methoden an die Hand, um bessere Entscheidungen zu treffen. Die Stärke des Buches liegt darin, dass es wissenschaftliche Erkenntnisse aus Psychologie und Verhaltensökonomie mit anschaulichen Beispielen aus dem Poker verbindet. Duke lädt dazu ein, nicht auf absolute Sicherheit zu hoffen, sondern besser mit Ungewissheit zu leben.
Meine wichtigsten Erkenntnisse aus dem Buch
1. Das Leben ist wie Poker, nicht wie Schach
Beim Schach ist das Spielfeld deterministisch. Wenn ich genügend Wissen und Können habe, kann ich die Züge meines Gegners voraussehen und rechnerisch die beste Entscheidung treffen.
Poker ist anders. Man kennt nicht alle Karten im Spiel, Emotionen verzerren die Wahrnehmung – man weiss nie zu 100 %, wer blufft und wer nicht – und manchmal führt die beste Entscheidung trotzdem zu einer Niederlage. Genau das macht es zu einer treffenden Metapher für das Leben.
2. Wie wir in Wetten denken
Wenn wir entscheiden, wetten wir eher auf eine unsichere Zukunft, als dass wir den nächsten Zug in einem kalkulierten Prozess machen. Duke beschreibt eine Wette als eine Entscheidung über eine unsichere Zukunft, basierend auf Wahrscheinlichkeiten, Risiko und Überzeugungen. Jede Entscheidung bedeutet, dass wir uns für eine Option entscheiden und gleichzeitig gegen unzählige andere mögliche Zukunftsversionen.
Wichtig ist es dabei, Unsicherheit zu akzeptieren. Gute Entscheiderinnen und Entscheider suchen nicht nach Gewissheit, sondern fragen sich, wie unsicher sie sind. Wir fürchten Unwissen, doch laut Duke ist es ein notwendiger Schritt zu besseren Entscheidungen. Nur wer seine Wissensgrenzen kennt, kann sie erweitern. Für Duke ist «Ich weiss es nicht» eine Stärke. Dazu braucht es ein Denken in Wahrscheinlichkeiten statt eines Schwarz-Weiss-Denkens. Statt richtig oder falsch geht es um die Wahrscheinlichkeit, dass eine Entscheidung zum gewünschten Ergebnis führt. Das öffnet den Blick für Graustufen.
3. Worauf wir achten müssen
Resulting
Wir neigen dazu, den Wert einer Entscheidung nach ihrem Resultat zu beurteilen. Läuft es gut, glauben wir, die Entscheidung sei richtig gewesen. Läuft es schlecht, halten wir sie für falsch. Doch das ist eine gefährliche Illusion, weil es den Einfluss von Zufall, Glück oder Pech ignoriert. Duke nennt das Phänomen «Resulting». Trotz eines guten Entscheides, kann es zu einem schlechten Ergebnis kommen und umgekehrt. Wir können uns zum Beispiel an die Verkehrsregel halten und trotzdem in einen Autounfall verwickelt werden. Nur wenn wir Prozess und Ergebnis trennen, können wir wirklich lernen.
Self-serving bias
Manchmal tun wir jedoch genau das Gegenteil. Wir verfallen dem «self-serving bias». unsere Neigung, Erfolge unserem Können und Misserfolge dem Pech zuzuschreiben. Bei anderen neigen wir dazu, genau das Gegenteil zu tun. Diese Selbsttäuschung schützt unser Ego, verhindert aber, dass wir aus Fehlern lernen. Ein Beispiel: Wir investieren in eine Aktie. Steigt sie, war es unser kluger Riecher. Fällt sie, war der Markt schuld. Doch nur, wenn wir diesen Bias überwinden, können wir nüchtern analysieren, was Können war und was Glück oder Zufall.
Motivated reasoning
Unser Gehirn liebt Ordnung und Bestätigung. Wir neigen dazu, Informationen so zu verarbeiten, dass sie unsere bestehenden Überzeugungen stützen. Das nennt Duke «motivated reasoning». Im digitalen Zeitalter verstärken Algorithmen diesen Mechanismus. Filterblasen füttern uns mit genau den Inhalten, die wir ohnehin schon glauben. So verfestigen sich unsere Weltbilder, während wir kritische Gegenargumente ausblenden.
Tilt
Ein weiteres Risiko beim Entscheiden ist das, was Duke «Tilt» nennt: ein emotionaler Ausnahmezustand, in dem wir rational kaum noch urteilen können. Der Begriff stammt ursprünglich von Flipperautomaten, die automatisch blockierten, wenn Spieler zu heftig an ihnen rüttelten. Wer im Stress, in Rage oder euphorisiert entscheidet, tilted sein Entscheidungsvermögen. Darum ist es wichtig, die eigenen Anzeichen für Tilt bei sich selbst zu erkennen, etwa Gereiztheit oder Tunnelblick, etc. und eine Pause einzulegen, bevor man handelt.
Tickern
Wir tendieren dazu unser Leben und unsere Entscheidungen im Live-Modus kritisch zu beobachten und zu bewerten. Duke vergleicht das mit der Beobachtung eines Börsentickers. Wenn wir den Aktienkurs eines Unternehmens im Minutentakt beobachten und nur auf diesen Ausschnitt der Performance achten, treffen wir keine guten Anlageentscheidungen. Erst wenn wir herauszoomen und den Verlauf über Jahre betrachten, erkennen wir das Muster, Kontexte und Entwicklungen. Genauso ist es im Leben.
4. Techniken für bessere Entscheidungen
Szenariodenken
Wir können die Zukunft nicht kennen, aber wir können verschiedene Szenarien entwerfen und Wahrscheinlichkeiten abwägen. Szenariodenken bedeutet, nicht auf eine Prognose zu setzen, sondern mehrere mögliche Entwicklungen im Blick zu behalten und ihre Konsequenzen zu bedenken. Hilfreich ist dabei das sogenannte prospektive Hindsight oder Backcasting: Man stellt sich vor, ein Ereignis sei bereits eingetreten, und überlegt rückwärts, wie es dazu gekommen sein könnte. So lernen wir, flexibler zu reagieren und Unsicherheit nicht als Bedrohung, sondern als Teil des Entscheidungsprozesses zu begreifen.
Perspektivwechsel
Ein hilfreicher Trick für mehr Objektivität ist der bewusste Perspektivwechsel. Wir sind oft strenger mit anderen als mit uns selbst. Deshalb lohnt es sich, sich vorzustellen, ein bestimmtes Ergebnis wäre uns selbst passiert. Würden wir es dann immer noch auf Glück oder Pech schieben. Indem wir dieses «Was wäre, wenn» aktiv üben, erkennen wir, dass Ergebnisse selten nur Glück oder nur Können sind, sondern fast immer eine Mischung.
Entscheidungspods
Duke empfiehlt, Entscheidungen nicht nur allein zu reflektieren. In sogenannten Entscheidungspods schliessen sich kleine Gruppen zusammen, um sich gegenseitig beim besseren Entscheiden zu unterstützen. Drei Regeln sind zentral: Erstens geht es nicht um Bestätigung, sondern um Wahrheitsfindung. Zweitens verpflichten sich alle Mitglieder zu Transparenz und Verbindlichkeit, sodass sie ihre Überlegungen nachvollziehbar machen. Drittens ist Vielfalt entscheidend. Nur wenn unterschiedliche Perspektiven aufeinandertreffen, entstehen Korrekturen für die eigenen blinden Flecken.
10-10-10-Regel
Gegen das Tickern hilft die 10-10-10-Regel: sich zu fragen, wie werde ich diese Entscheidung in 10 Minuten, 10 Monaten und 10 Jahren sehen. Diese simple Methode zwingt uns, die Perspektive zu wechseln und das grosse Ganze zu betrachten. Duke illustriert das mit einem starken Bild: Ein geplatzter Reifen im Regen auf der Urlaubsfahrt fühlt sich im Moment katastrophal an. Doch in zehn Jahren ist er nichts weiter als eine Anekdote. Genau wie bei Aktien: Wer minütlich den Börsenticker beobachtet, wird verrückt bei jedem Ausschlag. Erst im langfristigen Chart zeigt sich die wahre Entwicklung. Entscheidend ist: das Leben nicht wie einen Ticker Minute für Minute beobachten, sondern die langfristige Kurve im Blick behalten.
Strategisch handeln in einer unsicheren Welt
Annie Duke zeigt: Das Leben ist kein Schachspiel mit klaren Regeln, sondern ein Pokerspiel voller Unsicherheit. Wer klüger entscheiden will, muss lernen, in Wahrscheinlichkeiten zu denken, die eigenen Biases zu erkennen und Prozesse über Ergebnisse zu stellen.
Motivated reasoning und self-serving bias sind starke Kräfte, die uns blenden. Resulting verführt uns, Entscheidungen nach Ergebnissen zu bewerten. Tilt bringt uns dazu, im falschen Moment impulsiv zu handeln.
Doch es gibt Auswege: Szenarien entwerfen, das «Ich weiss es nicht» zulassen, den Blick weiten wie beim Aktienchart und den Reifenpannenmoment zu relativieren. Entscheidungspods nutzen, um Vielfalt und Verbindlichkeit zu gewinnen. Und immer wieder den Perspektivwechsel wagen.
Am Ende geht es nicht darum, immer richtig zu liegen. Es geht darum, bessere Wetten abzugeben, mit einem klaren Kopf, realistisch kalibrierten Überzeugungen und der Bereitschaft, aus jedem Ausgang zu lernen.
Was ich aus der Lektüre mitnehme
Annie Duke schafft es, komplexe Konzepte verständlich zu erklären und ihnen Namen zu geben, sodass ich viele Denk- und Entscheidungsprozesse, die ich aus meinem alltäglichen Leben nur zu gut kenne, nun besser erkennen und einordnen kann.
Besonders bekannt vorgekommen ist mir das Phänomen des Resultings. Ich kenne es nur zu gut, nach einem schlechten Ergebnis sofort rückblickend anzunehmen, dass ich auch schlechte Entscheidungen getroffen haben muss. Durch das Buch habe ich gelernt, differenzierter und objektiver auf meine Entscheidungen zu schauen. Nicht jedes ungünstige Resultat bedeutet automatisch, dass mein Prozess falsch war.
Wirkungsvoll finde auch ich das Bild vom Börsenticker. Auch ich ertappe mich dabei, mein Leben wie einen Live-Ticker zu verfolgen. Inzwischen sage ich mir selbst: «Du bist am Tickern.» Und das hilft mir, mich aus dieser Fixierung auf die Mikro-Ebene zu lösen und die grössere Perspektive einzunehmen.