Algorithmen sind die neuen Gatekeeper

Warum Plattformkompetenz heute genauso wichtig ist wie guter Content

Als Social Media aufkam, war die Euphorie gross. Denn die Plattformen versprachen eine Demokratisierung der Öffentlichkeit. Sie boten die Möglichkeit, die eigenen Zielgruppen direkt zu erreichen – vorbei an den klassischen Gatekeepern der medialen Öffentlichkeit: den Medienhäusern. Doch mit der Professionalisierung und Kommerzialisierung der Plattformen zeigt sich immer deutlicher: Die Gatekeeper sind geblieben. Sie heissen heute «Algorithmen».

Algorithmen entscheiden über Sichtbarkeit

Algorithmen bestimmen, welche Inhalte Nutzerinnen und Nutzer tatsächlich auf Social Media zu sehen bekommen. Sie sind die neuen Filter der Sichtbarkeit – und so weit entwickelt, dass sie auch die menschliche Vorauswahl, etwa das Folgen eines Profils, übersteuern können. Das bedeutet: Nur weil uns jemand folgt, heisst das noch lange nicht, dass er oder sie unsere Inhalte auch angezeigt bekommt.

Aufmerksamkeit als Währung

Aufmerksamkeit ist die zentrale Währung der digitalen Öffentlichkeit. Die Algorithmen sind darauf ausgelegt, Nutzer:innen möglichst lange auf der Plattform zu halten. Denn die Plattformen verdienen nicht an Inhalten, sondern an der Interaktion mit Inhalten. Was früher die Auflage oder Einschaltquote war, ist heute die Verweildauer und die Engagement-Rate. Wer oder was mehr Aufmerksamkeit erzeugt, wird vom Algorithmus vermehrt ausgespielt. Wer nicht performt, verschwindet.

Ein kurzer Blick auf die Mechanismen verschiedener Plattformen

Dabei gibt es nicht den einen Algorithmus. Algorithmen sind das Herzstück jeder Plattform. Sie werden nur teilweise offengelegt und laufend weiterentwickelt. Diese Übersicht ist eine Momentaufnahme – basierend auf öffentlich zugänglichen Quellen und fundierten Analysen. Sie soll helfen, grundlegende Dynamiken der Plattformen besser zu verstehen:

  • LinkedIn setzt auf einen menschenzentrierten, zeitverzögerten Algorithmus. Inhalte von Privatpersonen erhalten mehr Sichtbarkeit als solche von Unternehmensseiten. Beiträge werden zunächst einem kleinen Teil des Netzwerks angezeigt. Erst wenn dort Reaktionen erfolgen, wird der Inhalt weiter ausgespielt.

  • Instagram (Meta) arbeitet mit unterschiedlichen Algorithmen für Feed, Stories und Explore. Während Feed und Stories vor allem auf Beziehung und Interaktion basieren, zählt im Explore-Bereich der Inhalt selbst. Wer länger nicht interagiert, sieht Inhalte oft nicht mehr – selbst bei bestehendem Follow.

  • TikTok folgt einem inhaltszentrierten Ansatz. Sichtbarkeit entsteht nicht durch Reichweite oder Follower, sondern durch Performance. Die ForYou-Page zeigt Inhalte, die als relevant gelten – auch von unbekannten Accounts. So entstehen virale Effekte, aber auch algorithmisch verstärkte Filterblasen.

Müssen wir jetzt alle tanzen?

In Kommunikationsabteilungen ist es selbstverständlich, eine Medienmitteilung so zu schreiben, dass sie den Anforderungen von Redaktionen gerecht wird. Aufbau, Sprache, Zitatform und Distribution sind darauf abgestimmt, wie Medien arbeiten. Diese Zuarbeit an die Gatekeeper ist etablierte Praxis.

Doch im Bereich Social Media tun sich viele Kommunikationsabteilungen damit immer noch schwer. Dabei sind Social Media Posts längst eine eigene Inhaltsgattung. Sie folgen keiner klassischen Textdramaturgie, sondern einer plattformspezifischen Dynamik. Dazu gehören visuelle Impulse, verständliche Struktur, Interaktionsanreize – und gutes Timing. “Müssen wir jetzt tanzen?!“ ist oft die erste sarkastisch-ängstliche Reaktion vieler etablierter Kommunikator:innen. Jein. Tanzen ist nicht Pflicht. Dynamisches, anschlussfähiges Storytelling auf Ebene Text, Bild und Ton jedoch schon.

Algorithmen als aktive Akteure verstehen

Was bedeutet das für Kommunikator:innen, Campaigner:innen oder Content-Schaffende?

Guter Inhalt allein reicht nicht mehr. Plattformkompetenz, Formatverständnis und technisches Feingefühl sind ebenso entscheidend wie die inhaltliche Botschaft. Wer Reichweite will, muss nicht nur fragen: Was will ich sagen? Sondern auch: Wie muss ich es sagen, damit es die Plattform trägt? Man muss die Mechanismen der Ausspielung verstehen und Inhalte so aufbereiten, dass sie auch algorithmisch «lesbar» sind. Algorithmen sind keine passiven Verteiler, sondern aktive Entscheider. Sie sortieren, gewichten und verwerfen. Sie formen den digitalen Diskurs.

Und trotzdem: Reichweite war noch nie so greifbar

Trotz aller Herausforderungen gilt: Noch nie war es realistischer, mit einem einzigen Beitrag eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Viralität ist heute kein exklusives Phänomen mehr, das grossen Medienmarken, millionenschweren Kampagnen oder Mega-Influencern vorbehalten ist. Algorithmen eröffnen neue Zugänge zu Sichtbarkeit – wenn man ihre Mechanismen versteht und bewusst mit ihnen arbeitet.

Die Frage bleibt natürlich: Was passiert nach der Sichtbarkeit? Wie lässt sich Reichweite in Vertrauen, Dialog oder konkrete Wirkung überführen? Das ist ein Thema für einen anderen Beitrag.

Fazit: Plattformkompetenz ist kein Nice-to-have

Wir sollten weder naiv noch zynisch mit sozialen Netzwerken umgehen. Algorithmen sind keine Feinde – aber auch keine neutralen Vermittler. Sie sind Teil einer profitorientierten Infrastruktur, die auf maximale Aufmerksamkeit ausgerichtet ist. Wer heute Öffentlichkeit sucht, braucht mehr als Inhalte. Er oder sie braucht ein Verständnis für das System, das Sichtbarkeit erzeugt. Plattformkompetenz bedeutet, die Regeln zu kennen, ohne sich ihnen völlig zu unterwerfen.
Es bedeutet, mit den neuen Gatekeepern zu arbeiten – ohne seine Haltung zu verlieren.

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Wie beeinflussen Social Media und Algorithmen unsere Demokratie?