Wie beeinflussen Social Media und Algorithmen unsere Demokratie?

Diese Frage durfte ich mit Schülerinnen der Kantonsschule Frauenfeld diskutieren. Sie stellten differenzierte Fragen zur digitalen Meinungsbildung, zur Rolle von Influencer:innen, zu Fake News sowie zur Transparenz politischer Prozesse. Sieben Gedanken aus dem Gespräch:

1. Medienkompetenz als Voraussetzung für Teilhabe

Social Media ist heute nicht nur Unterhaltung, sondern auch Informationsquelle. Laut der JAMESfocus‑Studie 2025 (ZHAW/Swisscom) nutzen 46 % der Jugendlichen (12–19) soziale Netzwerke zur Informationssuche.

Die Verifizierung und Einordnung von Inhalten, wie sie etwa seriöse Leitmedien übernehmen, fällt auf Social Media weitgehend weg. Diese Verantwortung geht auf die Nutzer:innen über. Mir müssen selbst prüfen, filtern und bewerten.

Und dies in einer Welt die geprägt ist von einer Informationsfülle. Inhalte strömen aus unzähligen Kanälen und von Absendern, deren Seriosität nicht immer auf den ersten Blick erkennbar ist:

  • Global: Täglich werden rund 402,74 Millionen Terabyte (402,74 Exabyte) an Daten erstellt. Würde man diese Daten in modernen Cloud-Speichern ablegen, bräuchte es täglich die Kapazität von mehreren tausend grossen Rechenzentren.

  • Individuell: Schätzungen zufolge konsumiert eine einzelne Person 34–74 GB Informationen pro Tag – das entspricht dem Inhalt von 16 HD-Filmen, 20 000 Liedern oder 2–4 Büchern. Mehr als die Hälfte dieses Datenverkehrs entfällt auf Videos.

Hinzu kommt eine neue Dimension: die rasante Zunahme von KI-generierten Inhalten. Vieles davon ist so täuschend echt, dass es kaum mehr als solches erkennbar ist. Deepfakes, manipulierte Audios und algorithmisch optimierte Fake News erschweren die Unterscheidung zwischen authentischer Berichterstattung und gezielter Manipulation.

All das macht Medienkompetenz zu einer Schlüsselressource der Demokratie. Nur wer Informationen kritisch hinterfragt, Quellen überprüft und Zusammenhänge versteht, kann in einer digitalisierten Öffentlichkeit mündig handeln und mitreden

2. Partizipation für neue Zielgruppen

Unser Politiksystem bleibt weiterhin stark netzwerk-geprägt und wird von etablierten Playern dominiert. Der Weg in Legislativ- und Exekutivfunktionen führt meist über langjährige Parteiarbeit und bestehende Kontakte. Für viele junge Menschen wirken diese Strukturen abschreckend. Gemäss SWI swissinfo.ch geben 75 % der Jugendlichen in der Schweiz an, politisch mehr mitwirken zu wollen, fühlen sich jedoch durch fehlende Information oder Zugangsmöglichkeiten eingeschränkt.

Soziale Medien eröffnen hier neue Chancen: Sie ermöglichen politische Teilhabe für jene, die im etablierten System unterrepräsentiert sind, und schaffen niederschwellige Alternativpfade, um Themen und Stimmen sichtbar zu machen.

  • Startrampe ohne Parteimandat: Anna Rosenwasser

Ein Paradebeispiel für diese Dynamik ist Anna Rosenwasser. Die queere Aktivistin und Polit-Influencerin wurde im Oktober 2023 überraschend in den Nationalrat gewählt, vom eigentlich aussichtslosen 20. Listenplatz und ohne vorherige politische Ämter. Anstatt den klassischen Weg über kleinere Mandate zu gehen, gelang ihr der Einzug in die kleine Kammer dank ihrer Sichtbarkeit und der starken Bindung zu ihrer Community auf Social Media.

  • Digitaler Aktivismus als Katalysator

Auch soziale Bewegungen wie Fridays for Future, Black Lives Matter oder MeToo zeigen, wie digitale Kanäle politischen Aktivismus demokratisieren. Sie geben Menschen eine Stimme, die im klassischen Politikbetrieb kaum Gehör finden, und haben gesellschaftliche wie rechtliche Veränderungen angestossen.

Noch nie war es realistischer, mit einem einzigen Beitrag eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Viralität ist heute kein exklusives Phänomen mehr, das grossen Medienmarken, millionenschweren Kampagnen oder Mega-Influencer:innen vorbehalten ist.

3. Cancel Culture und die Gefahr der Ausgrenzung

Die Tendenz, abweichende Meinungen reflexartig auszugrenzen oder zu sanktionieren, wird unter dem Schlagwort Cancel Culture diskutiert. Ursprünglich als Form des gesellschaftlichen Boykotts gegen diskriminierendes Verhalten gedacht, hat sich dieser Mechanismus in den sozialen Medien stark ausgeweitet. Heute reicht oft ein einziger viraler Post, um eine Person oder Organisation öffentlich zu brandmarken. Häufig ohne differenzierte Auseinandersetzung mit dem Kontext.

In digitalen Räumen, die von Schnelligkeit und Emotionalität geprägt sind, wird die Grauzone zwischen berechtigter Kritik, kollektiver Verantwortungsübernahme und mobartiger Ausgrenzung oft unscharf. Die Algorithmen verstärken diese Dynamik, indem sie polarisierende Inhalte bevorzugt ausspielen, weil Empörung hohe Interaktion erzeugt.

Für den demokratischen Diskurs birgt das mehrere Gefahren:

  • Selbstzensur: Menschen vermeiden es, ihre Meinung zu äussern, aus Angst, sozial „gecancelt“ zu werden.

  • Polarisierung: Es entstehen Lager, die kaum noch miteinander in Dialog treten.

  • Verlust an Differenzierung: Komplexe Themen werden auf Schlagworte reduziert, konstruktive Diskussion wird durch moralische Abgrenzung ersetzt.

Auch wenn viele Positionen emotional aufgeladen oder schwer erträglich sein mögen – demokratische Vielfalt lebt davon, dass wir Differenzen aushalten und konstruktiv verhandeln. Widerspruch muss möglich bleiben, ohne dass Menschen um ihren Ruf oder ihre Existenz fürchten müssen.

4. Zielgruppenspezifische Kommunikation – mit Verantwortung

Dass politische Akteurinnen und Akteure ihre Botschaften zielgruppengerecht aufbereiten, ist legitim und notwendig. In einer fragmentierten Medienlandschaft ist es sogar Voraussetzung, um Menschen überhaupt zu erreichen. Gleichzeitig birgt diese Strategie Risiken, wenn sie nicht verantwortungsvoll eingesetzt wird.

Digitale Plattformen begünstigen Personalisierung. Inhalte werden zugeschnitten, um möglichst genau die Interessen einer bestimmten Gruppe anzusprechen. Dies kann politisches Engagement fördern, insbesondere bei Menschen, die sonst wenig mit politischen Inhalten in Berührung kommen. Gleichzeitig verstärkt Personalisierung die Gefahr, dass sich Echokammern und Filterblasen bilden, in denen nur noch Gleichgesinntes sichtbar ist.

Dies führt zu einer Verengung des Blickfelds, weil Nutzerinnen und Nutzer kaum noch konträre Perspektiven wahrnehmen. Überzeugungen werden eher bestätigt als hinterfragt, und der öffentliche Diskurs zerfällt in Teilöffentlichkeiten, die sich kaum noch austauschen. Auch Plattformen spielen eine wichtige Rolle. Algorithmen, die auf maximale Interaktion optimiert sind, fördern oft polarisierende Inhalte.

Die Verantwortung politischer Akteurinnen und Akteure liegt deshalb darin, Relevanz mit Pluralität zu verbinden. Inhalte sollten die Lebenswelt der Zielgruppe ansprechen und gleichzeitig den Blick über die eigene Blase hinaus ermöglichen. Formate, die den Dialog zwischen Gruppen fördern, oder Kampagnen, die bewusst verschiedene Perspektiven einbeziehen, können hier einen Beitrag leisten.

Umso wichtiger ist es, dass politische Kommunikation nicht nur auf Klicks und Likes zielt, sondern die Qualität der Debatte im Blick behält.

5. Transparenz ist mehr als Informationszugang

Ein spannender Punkt aus dem Gespräch war die Frage, was Transparenz im digitalen Zeitalter eigentlich bedeutet. Wenn politische Akteurinnen und Akteure auf Social Media mehr über ihre Arbeit kommunizieren, entsteht auf den ersten Blick der Eindruck, dass politische Prozesse transparenter werden. Doch reicht es wirklich, einfach mehr Informationen bereitzustellen? Oder verzerren sie dadurch den Diskurs gar, weil sie diesen aktiv framen?

Transparenz erschöpft sich nicht in der Quantität von Informationen. Sie beginnt dort, wo Inhalte so aufbereitet sind, dass sie verständlich, einordbar und überprüfbar sind – auch für Menschen ohne Fachwissen. Es braucht Kontext, Erklärungen und eine Darstellung aus verschiedenen Perspektiven. Nur so können Bürgerinnen und Bürger politische Entscheidungen nachvollziehen und sich eine fundierte Meinung bilden.

Viele der derzeit angebotenen Formate bleiben symbolisch. Ein Livestream einer Parlamentsdebatte senkt zwar formal die Zugangshürde, doch die wenigsten sehen sich mehrstündige Debatten an. Solche Angebote erreichen vor allem jene, die sich ohnehin für das Thema interessieren. Für den Grossteil der Bevölkerung bleibt die Schwelle hoch.

Echte Transparenz bedeutet, die Komplexität von Entscheidungen sichtbar zu machen, anstatt sie zu verschleiern. Dazu gehört auch, Zielkonflikte, Abwägungen und unterschiedliche Interessen offenzulegen, statt lediglich Ergebnisse zu kommunizieren. Transparenz ist kein einmaliger Akt, sondern ein fortlaufender Prozess, der Vertrauen schafft, wenn er glaubwürdig umgesetzt wird.

Soziale Medien bieten hier Chancen, weil sie die Informationen aktiv dorthin bringen, wo die Leute sie konsumieren wollen. Zudem ermöglichen sie neue Formate: kurze Erklärvideos, Infografiken oder interaktive Formate können politische Inhalte zugänglicher machen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass Transparenz zur Inszenierung wird, wenn Informationen zwar geteilt, aber einseitig oder unvollständig dargestellt werden.

Transparenz im digitalen Raum erfordert deshalb mehr als Daten und Live-Streams. Sie verlangt eine aktive Übersetzung politischer Prozesse, die sowohl die Tiefe als auch die Vielstimmigkeit abbildet. Nur so können Bürgerinnen und Bürger nachvollziehen, warum Entscheidungen getroffen werden und Vertrauen in demokratische Institutionen entwickeln.

6. Die vierte Gewalt: Journalismus, nicht die Plattform

De Schülerinnen äusserten im Gespräch ihr Bedenken, dass Social Media die vierte Gewalt schwächt. Wenn Social Media die klassischen Medien zunehmend als Informationsquelle ablöst, wird Social Media selbst mehr zur vierten Gewalt im Staat. Doch auf Social Media könne jede und jeder Inhalte veröffentlichen, ohne dass diese überprüft werden. Dort kursierten nicht nur Meinungen, sondern auch Fake News und gezielte Desinformationskampagnen. Wenn sich das Informationsverhalten der Bürgerinnen und Bürger von den klassischen Medien hin zu Social Media verlagert, löse sich damit nicht auch die Aufgabe der vierten Gewalt auf?

Ich sehe die vierte Gewalt nicht in der Plattform, sondern im Journalismus selbst. Sowohl klassische Medien – Zeitungen, Radio, Fernsehen – als auch Social Media sind letztlich nur Kanäle, über die Inhalte verbreitet werden. Die eigentliche vierte Gewalt im Staat ist der unabhängige, kritische und ausgewogene Journalismus, der Fakten überprüft, Macht kontrolliert, Missstände aufdeckt und Zusammenhänge einordnet.

Für die Demokratie bedeutet das: Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr hochwertigen Journalismus, der sich auch im digitalen Raum behauptet. Journalistinnen und Journalisten müssen dort präsent sein, wo die Menschen ihre Informationen beziehen – zunehmend also auch auf Social Media. Nur so können sie ihre Rolle als Kontrollinstanz und als Hüter einer informierten Öffentlichkeit auch in Zeiten algorithmisch gesteuerter Plattformen wirksam ausfüllen.

7. Algorithmen als neue Gatekeeper

Aufmerksamkeit ist die zentrale Währung der digitalen Öffentlichkeit. Algorithmen sind so programmiert, dass sie Nutzer:innen möglichst lange auf der Plattform halten. Denn Plattformen verdienen nicht an den Inhalten selbst, sondern an der Interaktion mit Inhalten. Was früher Auflage oder Einschaltquote war, sind heute Verweildauer und Engagement-Rate. Inhalte, die mehr Aufmerksamkeit erzeugen, werden stärker ausgespielt; Inhalte ohne Performance verschwinden im digitalen Rauschen.

Was wir auf Social Media sehen, ist daher kein Abbild der Realität, sondern das Ergebnis komplexer Filtermechanismen. Algorithmen entscheiden, welche Informationen überhaupt sichtbar werden – und damit, welche Themen gesellschaftlich Gewicht bekommen. Sie haben die Rolle der klassischen Gatekeeper übernommen, die früher Medienhäuser innehatten.

Für Akteur:innen bedeutet das: Wer Reichweite will, muss den Logiken der Plattform folgen. Und für die Demokratie bedeutet es: Die öffentliche Meinungsbildung verlagert sich immer stärker in einen Raum, in dem Sichtbarkeit nicht allein von Relevanz, sondern von algorithmischen Kriterien bestimmt wird.

Mehr über das Thema “Algorithmen als neue Gatekeeper” in diesem Blogbeitrag.

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Algorithmen sind die neuen Gatekeeper